Das Gleichnis vom "Träumer"

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sdsdsdsv
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Das Gleichnis vom "Träumer"

Beitragvon sdsdsdsv » 14. März 2012, 15:27

"Da geht einer verträumt auf der Straße. Der sieht genau so aus, wie alle anderen. Plötzlich stellt sich ihm jemand so in den Weg. Er behindert ihn. Er steht an. Er geht nicht auf die Seite, macht keinen Bogen um sein Gegenüber. Er hat keinen Sinn für Rangordnung, ordnet sich weder unter, noch nimmt er den Kampf mit dem Willen dessen, der ihn behindert auf, um sich durchzusetzen. Der Behinderer rempelt den Verträumten zur Seite und geht seiner Wege.

Wenn es zur Grunderfahrung dieses einen Menschen geworden ist, daß ihm andere in den Weg treten, dann wird er sich gewiß als behindert erleben.

Und andere, die beobachten, daß dieser verträumte Mensch, dem das mit der Behinderung immer wieder passiert, werden zu dem Konsens kommen: dieser Mensch ist behindert. Sie werden nicht sagen: das ist ein verträumter Mensch, sondern werden ihm die Rolle des Opfers zuordnen. Und da wird es nun Menschen geben, die Mitleid mit ihm haben und ihn vor anderen beschützen wollen und diese anderen, denen dieser Mensch einfach im Weg herumsteht, die ihn ja gar nicht angerempelt haben wollten und die es ja gar nicht böse gemeint hätten mit dem Zur - Seite - Schieben.

Unser "Träumer" ist weder ein "Hans Guck in die Luft" noch ein Narr oder ein Behinderter. Aber so wie alle, die "nicht ganz da" sind, hat er etwas an sich, daß ihm die Behinderung immer wieder passiert, daß ihm andere den Weg verstellen.

Um sich in dieser Welt des "Verstellens" zurecht zu finden, paßt er sich an und "verstellt" sich. Für ihn ist die "Realität" etwas, was er spielen muß, etwas, was für die anderen normal sein mag, über die diese Normalen nicht nachdenken müssen, weil ihnen die "Realität" selbstverständlich ist. Diese Realität heißt: geradlinig seinen Weg gehen, rechtzeitig Kollisionen vermeiden, sich anpassen, und wenn Dinge nicht in Ordnung sind: sich zu entschuldigen oder Schuld abzuwälzen.

Normal sein, sich anpassen, kann der "Träumer" nur auf künstliche Weise und man sieht in seinen Augenwinkeln, daß er es verschmitzt tut. Es geht ihm vor allem die Fähigkeit ab, sich durch Anpassung zu schützen. Er ist das, was andere als "geborenes" Opfer bezeichnen. Er wehrt sich nicht, das heißt, er entschuldigt sich nicht. Er steht anderen nicht im Weg, aber es scheint so, als wäre es so. Und das juckt manche Passanten, ihm eine Bosheit anzutun...

Kurzum ich frage mich, was Träumer, Behinderte, Narren etc. gemeinsam haben: Die Unbekümmertheit; den - im wahrsten Sinne des Wortes - rettungslosen Glauben an die Unverletzbarkeit und das Gute. Der "heillose" Irrtum macht sie zu Opfern."

aus: Schönwiese, Ekkehard: Narren - Behinderte. Ein volkskundlicher Beitrag zur Geschichte Behinderter.

Schönwiese schreibt eigentlich über Behinderte und Narren und dem Umgang mit ihnen im Mittelalter (der vollst. Text ist oben verlinkt). Dabei kann sich eine solche Geschichte kaum auf Quellen stützen, denn die Behinderten haben keine hinterlassen und die Narren dürften nicht als Menschen auftreten, sondern wären es keine Narren mehr.

Der Schizoide steht ein wenig zwischen beiden und genießt quasi das Schlechteste beider Welten: Er ist kein offensichtlich Behinderter, sondern so normal und unauffällig, dass er an der Gesellschaft gemessen wird, aber er ist auch kein Weltverbesserer, bzw. Kritiker, wie der Narr, dem die Welt trotz seiner ironischen Distanz sehr am Herzen liegt. Wer sich jedoch nicht einordnen lässt und vielleicht glaubt, das schöne Spiel der sozialen Rangordnung umgehen zu können, der wird zwangsläufig von anderen auf einen der unteren Plätze verwiesen.

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knallschnute
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Re: Das Gleichnis vom "Träumer"

Beitragvon knallschnute » 14. März 2012, 18:12

Das ist auch aus deinem richtig guten Link!

Ich zitiere:

"Vom Woyzeck zum Dorfdepp

Ein gänzlich anderer Geschichte der Narren auf der Bühne ist die des Dorfdeppen als lächerliche Figur. Als tragische Figur ist der "Behinderte" eine Entdeckung des frühen 19. Jahrhunderts. Sie wurde für die Bühne bahnbrechend von Georg Büchner im "Woyzeck" als ein Mensch, der zum Behinderten von der Gesellschaft behindert gemacht wird, beschrieben. Georg Büchner war nicht nur ein begnadeter revolutionärer Schriftsteller, sondern auch Arzt und Diagnostiker. Er analysierte die Tat des Frauenmörders Woyzeck und stellt seiner Gewalttat den verbrecherischen Umgang einer militanten Umwelt gegenüber, die sensiblen Menschen das Rückgrat bricht, um sie dann für behindert zu erklären. Georg Büchner geht in seiner Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit so weit, daß er ihr vorwirft, eher Tiere für Intelligenzbestien, als auffällige Individuen für Menschen zu halten. "Woyzeck" ist in den Augen derer, die die Norm anbeten, ein Fex. Büchner erfand seine tragische Figur des behinderten Woyzeck nicht, sondern schrieb in seinem Stück eine Verteidigung eines "medizinischen Falles", der durch Experimente mit Sonderdiät (Narren fressen alles) in seiner Persönlichkeitsstruktur zerstört wurde, dann einen Mord beging und dafür als voll verantwortlich hingerichtet worden war. Es ist nur schwer zu fassen, daß nach einer derartig einfühlsamen Darstellung der Behinderte in Form des "Dorfdeppen" zur komischen Figur werden konnte, über die gelacht wird,

weil sie anders ist. "Anders" bedeutet nicht nur "geistig zurückgeblieben". Der Typ des Dorfdeppen beschränkt sich nicht auf den Schwachsinnigen und den durch Inzucht Behinderten, sondern auch auf Fremdlinge jeder Art.

Am Beginn des Stückes entlarvt Büchner das Problem des Behinderten als Problem der Naturwissenschaft. Er zeigt, wie Behinderte zum medizinischen Fall gemacht werden. In einem kühnen Bild stellt er dar, was die Gesellschaft von einem "normalen" Menschen hält. Er sei eine Maschine, einer der nach Dressur funktioniert. Und wer nicht funktioniert, der ist ein Fall zur Demonstration von Abartigkeit. Es ist ein düsteres Bild, das Büchner da entwirft. Es ist geradezu prophetisch im Hinblick auf die medizinische Bestialität des Nationalsozialismus

Ausrufer: "Meine Herren! Sehen Sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht hat, nix, gar nix. Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht hat Rock und Hosen. Hat ein Säbel! Mach Kompliment" Ein Marktschreier kommt auf die Bühne und erklärt, daß das Pferd, das er mitführt, weil er es zum Nicken veranlassen kann, ein dem Menschen überlegenes Wesen ist. "Zeig dein Talent"! Zeig deine viehische Vernünftigkeit! Beschäm die menschliche Sozietät! Meine Herren, dis Tier, das Sie da sehen, Schwanz am Leib, auf sei vier Hufe ist Mitglied von alle gelehrte Sozietät, ist Professor an unse Universität, wo die Studente bei ihm sitze und schlage lerne. Das war einfacher verstand. ... Das hat geheiße: Mensch sei natürlich. Du bist geschaffe Staub, Sand, Dreck. Willst du mehr sein.."

Was soll man dem noch dazu fügen, außer dies aus dem Text hinzufügend zitieren ;):

"Ist der Dorfdodl zu heilen?

Es wird in dem Stück gezeigt, wie ein Behinderter bei liebevoller Betreuung lernfähig ist und sich zur Normalität entwickelt. Es behandelt aber nicht den springenden Punkt des unwiderruflich Andersartigen des anderen. Ein Stück über einen "Behinderten", von dem angenommen wird, daß seine Störung bei entsprechender Therapie behebbar ist, bleibt in der Utopie der Heilung hängen und entzieht sich dem Thema der Integration dessen, der in seiner Art ein Fremder bleibt.

Das "ländliche Lustspiel" ist mit seinen Auslachfiguren eine Erfindung der Zwischenkriegszeit unseres Jahrhunderts. Man könnte einwenden und sagen, daß das nichts mit Faschismus und Außenseiterfeindlichkeit zu tun habe. Vielmehr sei das Theater der Ort, der dem realen Faschismus einen Spiegel vorhalte. Theater hat nie unmittelbar etwas mit der Realität der Gesellschaft zu tun, ist aber doch ein Spiegelbild.

Das "ländliche Lustspiel" will kein realistisches Abbild der Dorfbevölkerung darstellen, in der behinderte Menschen leben, sondern verlegt das Geschehen meist zurück in die Vergangenheit, in eine soziale Realität, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Man schwärmt in diesen Stücken von Dörfern und Bauernhöfen, wo der Bauer wie ein Fürst über seine Untertanen regieren konnte. Er ist despotisch und selbstherrlich, wie einer, der sich einbildet, Ludwig der 14. zu sein. Die "keifende Alte" vermag ihn von diesem Wahn ebensowenig zu heilen wie der trottelhafte Sohn, der geistig behindert Knecht, die zügellose, fexenartige Magd, die diebische Türkin, der vom Geiz besessene Jude etc. Die in diesen Stücken beschriebene Gesellschaft ist trotz einer als Welt von Behinderten dargestellten bäuerlichen Welt eine Utopie, denn es wird niemand wegen seiner Behinderung ausgestoßen oder verfolgt. Wer will gegen so ein "Kaperltheater", das mit der Realität nichts zu tun hat, etwas einwenden? Das Problem des Typus "ländliches Lustspiel" beginnt mit der Idealisierung von "Bodenständigkeit", mit der Heroisierung des sogenannten Gesunden, an dem gemessen das Behinderte, Reduzierte, Fremde und Andersartige die Wertung des Krankhaften bekam."
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Re: Das Gleichnis vom "Träumer"

Beitragvon knallschnute » 14. März 2012, 18:33

Das MUSS ich ebenfalls aus dem Link heraus kopieren:

"Irritation durch Narren und Behinderte

Narren und Behinderte sind durch ihr Verhalten auffällig. Sie sind Irrende, die in den Augen derer, die ihren festen Platz in der Gesellschaft hatten, im Irrtum leben. Zumindest emotional müssen sie als irr empfunden werden, damit sie keine Provokation darstellen. Und Provokation ist für den, dessen höchstes Ziel die Anpassung ist, das, was er verdrängt. Alles, was sich der Anpassung entzieht, macht ihn aggressiv, bzw. sondert er aus. Wer nicht gerade ein "spinnerter Künstler" ist, wird es schaffen ein Haus nicht nach Norm zu bauen und mit Rücksicht auf das "Spinnerte" bei allen Instanzen und sogar von der Dorfgemeinschaft in Ruhe gelassen werden. Viele werden sagen, von so einer Behausung zu träumen. Es ist en Objekt der Sehnsucht. Allerdings tröstet man sich damit, daß der Preis sehr hoch sei, nämlich der Preis, sich als anders von allen anderen abgehoben zu haben, wodurch zweifellos ein Stück Geborgenheit verloren geht. Er wird nicht ernst genommen und vor allem nie in die Gemeinschaft aufgenommen. Er bleibt ein Fremder. Als solcher wird er ein ruhiges Leben haben, es sei denn in einer Krise. Da wird er dann plötzlich, in welcher Form auch immer, zum Sündenbock, der er potentiell schon die ganze Zeit war. Er wird nun für die Freiheit gleichsam bestraft, die man ihm die ganze Zeit über gewährt hatte.

Girard beschrieb sehr spannend die Identität vom Fremden und dem Sündenbock. Er führt aus, daß der Versuch des Fremden, sich anzupassen, den Mechanismus der Verfolgung auslöst. Solange er fremd bleibt, ist die Welt der Heimat in Ordnung. Erst sein Wunsch und sein Versuch, sich anzupassen macht ihn verdächtig. Aber es ist hier so wie mit dem Bauerntrottel in der Literatur. Die Zeit, die man ihm den Vogel zeigt, ist die lange Friedenszeit. Und der Abschnitt von der Idealisierung mit der folgenden Übertölpelung bzw. Eliminierung ist wie eine Eruption, eine revolutionäre Begleiterscheinung einer gesellschaftlichen Umbruchphase. So ist das mit der Narrenfreiheit.

Das Andersartige ist immer ein Appell zur Reflexion von Normen, zu der nicht immer die entsprechende Bereitschaft vorhanden ist. Hat eine Gesellschaft Angst vor Veränderungen, projiziert sie diese auf Irre, erklärt sie für schuldig und stempelt sie zu Opfern. Beziehungsweise gibt es immer wieder Menschen, die von sich aus auch die gesellschaftliche Rolle des Irreseins anbieten. Damit ist die Sache aber nicht abgetan. Durch die Verkörperung der Angst wird der Gegenstand der Angst zur Bedrohung und schlägt um. Die Geschichte ist voll von Beispielen des

Zusammenhanges zwischen gewaltsamen gesellschaftlichen Veränderungen und dem Auftauchen von Verrückten. Diese sind am Beginn revolutionärer Entwicklungen die ersten Opfer. Im Verlauf der Ereignisse entsteht aber so etwas wie eine Narrenkultur. Und die ist verbunden mit der Entdeckung des Närrischen als allgemein gültiger Zustand der Gesellschaft."


Toll :top: - Ich danke sehr dafür!
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