Bernardo Soares

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doug85
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Bernardo Soares

Beitragvon doug85 » 16. Oktober 2018, 00:51

Anknüpfend an Laikas Thread zu Álvaro de Campos (vielen Dank für diesen Hinweis!) möchte ich hier gern auf Bernardo Soares aufmerksam machen. Soares ist ein weiteres Pseudonym von Fernando Pessoa. In kaum einem anderen Buch fühle ich mich so zu Hause wie in seinem "Buch der Unruhe". Ich stelle einfach mal ein paar Passagen vor (Quellenangabe siehe ganz unten). Ich vermute, dass sich viele von euch in dem ein oder anderen Text wiederfinden. Ich freu mich über Rückmeldungen und auch über Literaturtipps, wenn ihr welche habt.


"Wer eigentlich bin ich, wenn ich nicht spiele? Ein armes Waisenkind, ausgesetzt in den Straßen der Empfindung, fröstelnd an den Ecken der Wirklichkeit, gezwungen, auf den Stufen der Traurigkeit zu schlafen und sich vom Brot der Phantasie zu nähren. Von meinem Vater weiß ich den Namen: Ich hörte, er hieße Gott, doch der Name sagt mir nichts. Manchmal in der Nacht, wenn ich mich allein fühle, rufe ich nach ihm und weine und versuche, mir ein Bild von ihm zu machen, das ich lieben kann … Doch dann denke ich, daß ich ihn nicht kenne, daß er meinem Bild vielleicht nicht entspricht und vielleicht nie und nimmer der Vater meiner Seele ist …
Wann wird all dies ein Ende haben? Die Straßen, durch die ich mein Elend schleppe, die Stufen, auf die ich mein Frösteln kauere und die Hände der Nacht zwischen meinen Lumpen spüre? Wenn Gott mich eines Tages holte und zu sich nähme, wenn er mir Wärme und Zuneigung schenkte … Manchmal denke ich das und weine allein bei dem Gedanken vor Freude, daß ich es denken kann … Doch der Wind weht durch die Straße, und die Blätter fallen auf den Gehsteig … Ich schaue auf und sehe die Sterne, die keinen Sinn haben … Und von alldem bleibe nur ich, ein armes, ausgesetztes Kind, das keine Liebe an Kindes Statt annehmen und keine Freundschaft zum Spielgefährten haben wollte."
(Fr. 88, S. 108f.)

"Ich habe immer nur geträumt. Dies und nur dies ist der Sinn meines Lebens gewesen. Von wirklichem Belang war für mich nur mein inneres Leben. Meine größten Kümmernisse verflogen, wenn ich das Fenster auf die Straße meiner Träume öffnend mich selbst vergaß bei dem, was ich sah.
Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein Träumer. Sprach man mir von leben, hörte ich nie zu. Ich fühle mich immer dem zugehörig, was nicht ist, wo ich bin, und dem, was ich nie sein konnte. Alles, was nicht mein ist, hatte immer etwas Poetisches für mich. Nie habe ich etwas anderes geliebt als nichts. […]"
(Fr. 92, S. 112)

"Ich habe mein Leben verfehlt, noch bevor es begann, denn nicht einmal geträumt erschien es mir reizvoll. Traummüde nahm ich nur falsch noch wahr und äußerlich, als sei ich an das Ende einer unendlichen Straße gelangt. Ich trat über meine Ufer, verströmte mich, wohin weiß ich nicht, und stehe dort nun still, nutzlos. Ich bin etwas, das ich war. Bin nie, wo ich fühle, daß ich bin, und suche ich mich, weiß ich nicht, wer mich sucht. Der Überdruß an allem schwächt mich. Ich fühle mich aus meiner Seele vertrieben.
Ich beobachte mich, bin mein eigener Zuschauer. Meine Empfindungen ziehen wie äußere Dinge vor ich weiß nicht welchem meiner Blicke vorüber. Ich bin mir meiner in allem überdrüssig. Alle Dinge haben, bis tief in das Geheimnis ihrer Wurzeln, die Farbe des Überdrusses. [...]"
(Fr. 182, S. 203)

"Durch mein beständiges Mich-Denken bin ich meine Gedanken geworden, nicht aber ich selbst. Ich habe mich ausgelotet und das Lot fallen gelassen; und nun frage ich mich Tag für Tag, ob ich tief bin oder nicht, und habe als einziges Lot nur mehr meinen Blick, der mir klar auf schwarzem Grund im Spiegel eines tiefen Brunnens mein Gesicht zeigt, das mich, es betrachtend, betrachtet. Ich bin wie eine Spielkarte, eine alte, unbekannte Farbe, die einzig verbliebene eines verlorengegangenen Spiels. Ich habe keinen Sinn, ich kenne meinen Wert nicht, ich habe nichts, womit ich mich vergleichen könnte, um mich zu finden, ich habe nichts, was mir helfen könnte mich zu erkennen."
(Fr. 193, S. 215)

"Gott schuf mich als Kind und hat mich mein Leben lang Kind bleiben lassen. Warum aber erlaubte er dem Leben, mich zu schlagen, mir mein Spielzeug zu nehmen und mich allein zu lassen im Pausenhof, wo ich meine blaue, von vielen Tränen schmutzige Schürze mit hilflosen Händen zerknitterte? Wenn ich nur verzärtelt leben konnte, warum hat man diese Zärtlichkeit mit Füßen getreten? Ach, jedesmal wenn ich auf der Straße ein Kind weinen sehe, von den anderen verstoßen, schmerzt mich mehr noch als der Kummer des Kindes der furchtbare Schock, den mein müdes Herz bei diesem Anblick erleidet. […]"
(Fr. 407, S. 421)

"Ich war ein Fremder in ihrer Mitte, dennoch bemerkte es keiner. Ich lebte als Spion unter ihnen, und keiner, nicht einmal ich, schöpfte Verdacht. Alle hielten mich für einen Verwandten: Keiner wußte, daß man mich bei meiner Geburt vertauscht hatte. So war ich den anderen gleich, ohne ihnen ähnlich zu sein, war ihr aller Bruder, ohne zur Familie zu gehören. Ich kam aus wunderbaren Ländern, aus Landschaften, schöner als das Leben, doch von den Ländern habe ich keinem je erzählt, außer mir selbst, und die Landschaften aus meinen Träumen habe ich keinem je beschrieben. Meine Schritte klangen wie die ihren auf Dielen und Fliesen, doch mein Herz war fern, auch wenn es nahe schlug, falscher Herr über einen Körper, verstoßen und fremd.
Keiner erkannte mich unter der Maske der Gleichheit, keiner erfuhr je, daß ich eine Maske trug, denn keiner wußte, daß es in dieser Welt Menschen mit Masken gibt; keiner ahnte, daß neben mir stets ein anderer stand, der letztlich ich selber war. Sie hielten mich immer für mich.
Ihre Häuser gewährten mir Unterkunft, ihre Hände schüttelten die meine, sie sahen mich durch die Straßen gehen, als ginge ich dort wirklich; doch ich war nie der, der ich bin, in ihren Räumen; der, dessen Leben ich lebe, hat keine Hände, die andere schütteln könnten; der, als den ich mich kenne, geht durch keine Straße, es sei denn durch alle Straßen, und man sieht ihn dort nicht, es sei denn, er selbst wäre alle anderen.
Wir alle leben fern und namenlos; verkleidet leiden wir als Unerkannte. Einigen jedoch wird dieser Abstand zwischen dem einen und dem anderen Sein nie deutlich; anderen wird er, zu ihrem Entsetzen oder Kummer, gelegentlich hellauf bewußt, wie durch einen nicht endenden Blitz; für andere wieder ist er schmerzlicher und alltäglicher Bestand ihres Lebens.
Zu erkennen, daß, wer wir sind, nicht in unserer Hand liegt, daß, was wir denken und fühlen, stets eine Übersetzung ist, daß, was wir wollen, wir nicht nicht gewollt haben und vielleicht auch sonst keiner – dies alles in jeder Minute zu wissen, in jedem Gefühl zu fühlen, heißt das nicht fremd in der eigenen Seele sein, verbannt in den eigenen Wahrnehmungen?
Doch die Maske, die ich reglos beobachtete, als sie in dieser letzten Karnevalsnacht an der Straßenecke mit einem Unmaskierten sprach, streckte schließlich die Hand aus und verabschiedete sich lachend. Der Mensch ohne Maske ging nach links durch die Gasse an deren Ecke ich stand. Die Maske – ein einfallsloser Domino – zog weiter und entfernte sich durch ein Wechselspiel von Licht und Schatten in einem endgültigen Abschied, fremd meinen Gedanken. Da erst bemerkte ich, daß auf der Straße noch anderes war als brennende Laternen, dort nämlich, wo sie nicht waren, verbreitete ein matter Mond sein trübes Licht, heimlich, stumm und voller Nichts wie das Leben … "
(Fr. 433, S. 445-447)

"Wenn wir ständig im Abstrakten leben, sei es in abstrakten Gedanken, sei es in gedachten Empfindungen, werden uns bald, ohne daß wir dies wollten oder empfänden, all jene Dinge des wirklichen Lebens zu Trugbildern […]. […] Durch meinen häufigen Umgang mit Schatten bin ich selbst zu einem Schatten geworden, einem Schatten all dessen, was ich denke, fühle, bin. Die Sehnsucht nach dem normalen Menschen, der ich niemals war, hat mich bis in die Substanz meines Seins durchdrungen. […]"
(Fr. 468, S. 481f.)

"Mein Leben – eine Tragödie, ausgepfiffen von den Göttern und nie über den ersten Akt hinaus gespielt.
Freunde – nicht einen. Nur einige Bekannte, die glauben, sie fänden mich sympathisch, und denen es vielleicht leid täte, wenn ich unter einen Zug käme und es am Tag meiner Beerdigung regnete.
Der natürliche Preis für meine Distanzierung vom Leben war die von mir verschuldete Unfähigkeit anderer, etwas für mich zu empfinden. Eine Aureole der Kälte, ein Nimbus des Eisigen umgibt mich und stößt andere ab. […]
Nie habe ich bezweifelt, daß alle mich verraten; und doch war ich stets erstaunt, wenn dem so geschah. Wenn eintrat, was ich erwartete, kam es stets unerwartet für mich. […]
Mich von außen zu betrachten gereichte mir zum Untergang – zum Untergang meines Glücks."
(Luzides Tagebuch, S. 507-509)



Aus: Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, herausgegeben von Richard Zenith, übers. von Inés Koebel, Frankfurt 2011. Diese Neuübersetzung ist zugleich die erste deutsche Ausgabe des "Buchs der Unruhe", die sämtliche Fragmente von "Bernardo Soares" enthält. Die Auswahl und Übersetzung von Georg Rudolf Lind von 1985 - auch erschienen unter dem Titel "Buch der Unruhe" - ist natürlich auch gut.

tiffi

Re: Bernardo Soares

Beitragvon tiffi » 16. Oktober 2018, 07:01

doug85 hat geschrieben:Aus: Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, herausgegeben von Richard Zenith, übers. von Inés Koebel, Frankfurt 2011. Diese Neuübersetzung ist zugleich die erste deutsche Ausgabe des "Buchs der Unruhe", die sämtliche Fragmente von "Bernardo Soares" enthält. Die Auswahl und Übersetzung von Georg Rudolf Lind von 1985 - auch erschienen unter dem Titel "Buch der Unruhe" - ist natürlich auch gut.

Sehr ansprechend. Danke fürs Einstellen.


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