Franz Büchler: Schizoid

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sdsdsdsv
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Franz Büchler: Schizoid

Beitragvon sdsdsdsv » 24. Juni 2012, 21:57

[align=justify]Ich höre das Schweigen. Die Frau mir gegenüber schweigt. Sie hat keinen Hunger. Ich habe Hunger. Wir haben jeden Tag gleich viel zu essen. Hunger ist nicht Hunger. Sie stochert im Kartoffelbrei. Als sei es ungenießbarer Sand und Schlamm. Ich esse. Ich esse. Essen, essen, essen, essen, essen. Ich habe den Teller leer. Das Wort ist stabil. Ich kann es nicht zerkauen, nicht schlucken. Es bleibt. Was bleibt außer den Wörtern? Frau ist nicht Frau. In den Fältchen ihrer Augenwinkel zuckt es. Regelmäßig. Die Sekunden sind abzulesen, zuck, zuck, zuck, ohne Zeiger. Sie ist keine Uhr. Eine Uhr kann nicht reden. Ihre Augen reden. Sie sind schön.
(aus: Die Schwelle, S. 149, in: Büchler, Franz: "Schizoid", Horst Erdmann Verlag, Tübingen und Basel 1972)

Franz Büchler (1904-1990) war vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit Lehrer, bis er aus gesundheitlichen Gründen vom Schuldienst suspendiert wurde. Es folgten ungefähr vierzig Jahre, die er mit dem Schreiben von Dramen, zwei Romanen, Erzählungen, Lyrik und Essays verbrachte. Ich möchte mich im Folgenden dem Text "Schizoid" widmen, der 1972 erschien und sieben Erzählungen und eben so viele Texte enthält. An Hilfestellung durch das Internet findet sich wenig, was das Verständnis des Autors oder seiner Texte erleichtern würde (ein Wikipediaeintrag fehlt ebenfalls).

Die Titel der Erzählungen sind kurz und verbergen soviel wie sie preisgeben: Der Tote, Das Virus, Der Tanz, Die Stimme, Das Dach, Der Brief und Das Bild. Die Handlung ist dabei vordergründig und lässt sich nicht einer bestimmten Zeit zuordnen. Stattdessen wird das wahre Gesicht des Menschen gezeigt, seine nur punktuelle Verbindung mit der ihn umgebenden Welt und seine innere Zerrissenheit. Eine völlige Entfremdung von der Außenwelt, eine Schizophrenie, ist noch nicht erreicht, so schwankt man beim Lesen zwischen Hoffen und Bangen für die handelnden Figuren. Diese werden immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, stellen sich dann wieder an, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, um dann in einer Welt, in der sie scheinbar nur unwillkommener Gast sind wieder zu scheitern – oder verharren passiv in der Betrachtung ihrer Umwelt. Ein Zitat aus der ersten verlinkten Seite bringt es auf den Punkt:

"In Büchlers Essay -Schizoider Zeitgeist- (in -Wasserscheide zweier Zeitalter-) steht ein Satz, der als Antwort gelten könnte auf die Frage, warum der geistig-seelische Befund unserer Zeit - zwar nicht als krankhaft gespalten, schizophren, aber - als spaltungsartig, als schizoid, bezeichnet werden kann: -Weil wir gelernt haben, mit dem Wahnsinn täglich zu Tisch zu sitzen.- In den sieben Erzählungen und den sieben Texten des Schizoid-Bandes sind in einer plastischen und fein differenzierenden Prosa Beispiele schizoider Lebenswirklichkeit gestaltet. Die Überwindung der Spaltung, die mitmenschliche Kommunikation ist das eigentliche Thema des Autors."

Sind die Erzählungen noch leicht lesbar, so sind die Texte unkonventioneller: Die "an sich einfache, aber künstlerisch eigenartige und hochkarätige Prosa" (erster Link) zeichnet die Gedankengänge ihrer fiktiven Protagonisten nach, was sich z. B. in Wortwiederholungen und zunächst unsinnig erscheinenden Sätzen äußert. Lässt man sich aber darauf ein, erschließt sich einem diese Welt, in der Wichtiges und Unwichtiges gleichberechtigt nebeneinander stehen und das eigene Ich kaum erkannt und auch vom Gegenüber schwerlich getrennt werden kann. Die fremde aber konsistente inhärente Logik und Unlogik in einem schizoiden Geist verunsichert und fasziniert. In "Das Ding" befinden wir uns im Kopf eines kleinen Jungen, dessen größter Schatz eine Spielzeugpistole ist, die er gegen seinen Vater verteidigt, der sie ihm nehmen will. Das Fehlen einer übergeordneten Struktur, bzw. Perspektive lässt die Protagonisten in diesem ungleichen Kampf als subjektiv und engstirning erscheinen, gleichzeitig spricht aus den fragmentierten Sätze eine große Lebendigkeit und Unmittelbarkeit. Andere Geschichten wie "Klepp" sind noch kryptischer:

"1. Hirn. Staub. Lautlos fallender Staub, auf veraltetem, braun polierten Mobiliar. Ein Raum in verschlossenem Haus, grau und schwarz. Schmaler Sonnenstrahl bricht durch die undichte Fuge des Fensterladens. Stäubchen flattern im dünnen Lichtband des luftalten Raumes. Lebloses Leben.
2. Hirn. Sand. Vom Meerwind getriebener Sand. Rosa und Ocker. Horizontoffene Küste. Vom Strand her in Wellen die Wüste. Dünenhügel hinter Dünenhügel. Federzarte Schwingung im Sand. Lebloses Leben."

(aus: Staub. Sand, S. 186, in: ebd.)

Mit einigen Texten konnte ich wenig anfangen. "Das Ding" dagegen fand ich stilistisch und perspektivisch interessant, wenn man sich auf die Gedankenwelt des Kindes einlässt. Wieder andere Geschichten haben mich tief berührt, wie "Der Tanz", welche mich um die selbstvergessene Protagonistin sorgen ließ. "Zwei Gesichter" wiederum wirkte auf mich befremdlich und undurchschaubar mit Gedankenstrukturen, die ich kaum nachvollziehen konnte. So unterschiedlich die Texte auch sind, so ähneln sie sich alle in ihrer Darstellung des Schizoiden. Ich bin sehr froh, dass ich auf dieses Buch aufmerksam gemacht worden bin. Es wird leider nicht mehr aufgelegt und ist nur noch über Antiquariate oder ebay & Co. erhältlich.[/align]

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