Beitragvon Imagohominis » 8. Mai 2015, 12:27
Ich bin im weitesten Sinne Nihilist, ein metaphysischer Nihilist, der Wahrheiten nur in Relativität bejahgt, sie absolut nie irgendwo sehen kann, wobei ich philosophischen Gedankengebäuden auch anhängen kann, die in eine andere Richtung tendieren. Die Existentialisten sind mir die liebsten, vorallem das Buch "Der Ekel" von Sartre hat mich damals sehr beeindruckt.
Religiöse Ambitionen hingegen, d.h. einen Glauben an transzendente Mächte, hege ich hingegen nicht; trotzdem negiere ich nicht den Wahrheitsgehalt der Bibel in dem Sinne, als ihr eine immense gesellschaftliche Bedeutung zu kommt. Die moderne Ethik, die gesamten Philosophen der Aufklärung ließen sich aus ihr ableiten, sofern man die Einflüsse der hellenistischen Philosophie nicht ausklammert.
Die Bibel hat Moralvorstellungen und menschliche Reflektionen über gesellschaftliche Realität über eine lange Entstehungsgeschichte konserviert, woraus gerade ihr widersprüchlicher Charakter davon zeugt. Wer die Bibel abseits des historischen Kontextes liest, versteht mit einem reflektiven Charakter trotzdem die Bedeutung ihrer Parabeln, Aphorismen und Bildern - gänzlich ohne jeden religiösen Horizont ist die Bibel ein heterogenes Werk voller relativen Wahrheiten, die für das Prinzip "Menschsein" immer wieder relevant sind. Die Zehn Gebote des alten Testaments sind ein klassisches Beispiel; in ihr sind Gedanken wie Nächstenliebe enthalten, die heute in abgewandelter Form politisch geworden sind; aber in ihr sind auch Gedanken enthalten wie der des rachsüchtigen Gottes, von dem sich selbst das Christentum distanziert hat. Auch hier zeigt sich: Christentum bezieht sich auf das neue Testament, das Judentum auf das alte Testament (und anderer Schriften) - man kann also sagen, die Bibel gehört weder der einen, noch der anderen Religion.
Abseits aller menschlichen Prinzipien ist die Bibel nichts weiter, allerdings gilt dies für jede Schrift, für jeden Gedanken und für alle Philosophien.
Ich würde mich jedenfalls nicht als einen Atheisten sehen, denn der Atheist setzt eine Wahrheit: Gewissheit darüber, dass es Gott nicht gibt. Diese Wahrheit ist jedoch spekulativ, ebenso wie die Wahrheit: Es gibt Gott. Der Theist und der Atheist sind zwei Seiten einer gleichen Denkweise. In dieser Hinsicht ist ein Urknalltheoretiker mit dem Apologeten des Schöpfungsmythos vergleichbar, der eine untermauert seine Sicht mit physikalischen Gesetzen, der andere mit Glaubensbekenntnissen und Überlieferungen. Beide schaffen somit einen objektiven Rahmen, ein sich auf andere beziehendes, um von der subjektiven Wahrheit zu einer objektiven zu gelangen. Dem Urknalltheoretiker ließe sich zu gute halten, dass er sich auf den Rahmen seiner Erkenntnisfähigkeit reduziere, dem Apologeten des Schöpfungsmythos hingegen könne man zu gute halten, dass er ein kongruentes Gesamtkonzept der Welt verfolge. Die fantastischen Aspekte der Religion sind einer Wahrheitssuche geschuldet, die ureigenes Bedürfnis des Menschen sind und ebenso zu seinem Denken gehören wie Fähigkeit, vernünftig und rational zu denken. Die Urknalltheorie ist äquivalent zur Theorie des kausalen Gottesbeweises von Thomas von Aquin, man muss nur den ersten unbewegten Beweger mit "Urknall" statt mit "Gott" belegen. Aquin, ein religiöser Mensch, war Scholastiker, ein Prototyp des Wissenschaftlers. Darin sieht man nur, woraus sich Wissenschaften eigentlich entwickelt haben: Aus der Theologie.
Oft nehme ich in Gesprächen wahr, die Wissenschaft sei eine Ersatzreligion. Daraufhin frage ich immer: Glaubst du an die Wissenschaft? Die Antwort ist in der Regel ja. Dieser Glaube an die Wissenschaft, die an sich nichts weiter ist als das Prinzip der methodischen Widerlegung von Wissen durch Wissen, ist ein sehr nüchterner Glaube; eigentlich ist er ein Glaube daran, der dem Nihilisten sehr entgegen kommt, denn ein wahrer Wissenschaftler kann nur - im Sinne von Cicero - sagen: "Ich weiß, dass ich nichts weiß". Das ist übrigens nicht ausschließend, sondern aufhebend zu betrachten: Wissen und Unwissen sind ein stetes Kontinuum der Wissenschaft: Auf eine Frage kommt eine Antwort, die wieder eine Frage aufwirft. Es ist der Wissenschaft immanent.
Eigentlich ist jeder Wahrheitssuchende, der sie für sich findet - völlig gleich worin auch immer -, glücklich zu schätzen..
Im Grund gibt es keinen Bodhi-Baum
Da ist kein klarer Spiegel auf einem Gestell
Im Ursprung ist da kein Ding
Worauf soll sich Staub legen